April 2019
Kulinarische Philharmonie
Björn Swanson bietet im „Golvet“ in Berlin-Tiergarten eine „Neue deutsche Küche“: aus vorwiegend lokal-regionalen Zutaten in freier Komposition.
Es sind ein paar Achsen, die in Berlin im besonderen Maße um Gastronomen und um Gäste buhlen: traditionell die Linden und die Friedrichstraße in Mitte sowie der Kurfürstendamm im Westen. Seit ein paar Jahren macht an der Grenze zwischen Mitte und Prenzlauer Berg auch die Torstraße mit ihrem Umfeld von sich reden – und im Kommen ist die Potsdamer Straße, die vom Süden her auf das Kulturforum mit Neuer Nationalgalerie, Philharmonie und anderen Kunstinstitutionen zuläuft, zugleich mit Blick auf die Hochhäuser am Potsdamer Platz.
Vorübergehend wirkte die Potsdamer Straße ziemlich heruntergekommen, doch jetzt putzt sie sich langsam wieder heraus und entpuppt sich mit ihren Querstraßen als lebendige gastronomische Szene. Überraschend oder vielleicht sogar typisch für Berlin: Nicht der Potsdamer Platz, der östlich vom Kulturforum nach der Wende wie aus der Retorte geschaffen wurde, sondern die ältere unperfekte Potsdamer Straße lockt südlich vom Forum die kreative Szene aus Kunst und Gastronomie an.
Bevor die Potsdamer Straße nach Norden hin den Landwehrkanal überquert, steht linker Hand ein imposantes Eckhaus, das in jüngerer Zeit aufgestockt wurde. Ganz oben, in der achten Etage, wurde zunächst ein Penthouse-Partyclub eingerichtet, bis dort dann 2017 das Restaurant „Golvet“ einzog: rundum mit Fenstern versehenen, die den Blick auf das Kulturforum freigeben. Da das Restaurant erst ab 19.00 Uhr auf ist, sieht man im Winter abends die bunten Lichter draußen, im Sommer die Konturen der Kunstinstitutionen.
Als Gast fühlt man sich vom ersten Moment an wie herausgehoben aus dem Alltag, ganz so, als betrete man einen eigenen kleinen Kosmos. Das Lokal ist verhältnismäßig weiträumig, verfügt über 85 Sitzplätze und eine langgezogene Bar, zudem kann man sich auch an die Küchenbar setzen und den Köchen bei der Arbeit zuschauen. Der Geist von Smart Casual, der gepflegten ungezwungenen Art, die vorher für den Partyclub galt, schwingt im Restaurant fort.
Wesentlich verantwortlich dafür ist Björn Swanson, Küchendirektor und Betriebsleiter in einem. Der Clou ist, dass sich nun die freizügige Atmosphäre im „Golvet“ mit seiner raffinierten Kochkunst verbindet. Swanson ist Deutschamerikaner mit schwedischen Wurzeln und wuchs in Berlin auf, südlich der Potsdamer Straße, in den Vierteln Schöneberg, Friedenau und Steglitz. Er bringt Lokalkolorit mit und liebt die Westberliner Tradition: Multikulti, Vielfalt, Variabilität, Freiheit für den Gast, so weit wie möglich. „Ein Nein gegenüber dem Gast akzeptiere ich sehr schwer“, erklärt Swanson, „wir wollen Gäste ansprechen, Stammgäste gewinnen.“
Es gibt ja zwischenzeitlich auch andere Konzepte in der Stadt, die einseitiger sind, zumal in Mitte und drum herum: vegan, vegetarisch, „brutal lokal“, nur ein einziges Menü am Abend, sonst nichts. Im Zeitalter der Überversorgung ist auch das reizvoll. Aber gut sind ebenso Vielfalt und Variabilität. Neben dem Menü kann das Gast im „Golvet“ auch à la carte bestellen – und sei es nur ein Gang und ein Glas Wein. Bestellungen werden bis 22.30 Uhr angenommen, so dass auch jene Gäste noch etwas essen können, die spät aus den umliegenden Kinos, dem Varieté oder aus der Philharmonie kommen.
Swanson absolvierte seine Lehre im „Alten Zollhaus“ in Berlin-Kreuzberg unter Patron Herbert Beltle und Küchenchef Günter Beyer. „Ich lernte dort das Kochen von der Pike auf“, sagt Swanson stolz, „echtes Handwerk, noch ohne Thermomix und dergleichen.“ Es sei dort in der Küche „hart, aber fair“ zugegangen. Daran halte er sich. Eine gewisse Härte sei in der Gastronomie unvermeidlich. „Der Job muss getan werden, und er muss auf hohem Niveau getan werden.“
In seiner großen kräftigen Statur, mit Vollbart und nordisch-schwedischen Wurzeln hat Swanson etwas von einem Wikinger an sich, der zupacken kann und zu neuen Ufern aufbricht. Er fordert etwas von seinen Leuten, gibt ihnen aber auch Freiheiten und Entfaltungsmöglichkeiten. Die Postenchefs können eigene Kompositionen in das Menü einbringen.
Swanson selbst hat während seiner Wanderjahre mehrere Zwei-Sterne-Restaurant durchlaufen, unter anderem in Berlin das „Fischers Fritz“ (das es heute nicht mehr gibt) unter Christian Lohse und das „Facil“ unter Michael Kempf. Lohse habe ihn durch klassische französische Küche und Virtuosität beeindruckt, Kempf durch ein freieres Komponieren. Er erhielt seinerseits gleich nach der ersten Saison für das „Golvet“ einen Michelin-Stern. Hier pfelgt er nach eigenen Worten eine „neue deutsche Küche“. Etwa achtzig Prozent der Zutaten stammen – im Sinne der Frische und der Nachhaltigkeit – aus der nahen Region, aus der Mark Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern, der andere Teil kommt – im Sinn der Weltoffenheit – aus dem übrigen Deutschland, Europa und Übersee, jeweils frei komponiert.
Der erste Gruß aus der Küche mutet wie eine Reise um die Welt an: ein Türmchen aus Brik-Teig, gefüllt mit Trüffelcreme, darüber gehobelter französischer Périgord-Trüffel, daneben ein Tapioka-Chip mit Umami-Creme, Wasabi und Sushi-Ingwer, gefolgt von einem Mais-Taco, gefüllt mit Käsecreme und Jalapeño. Die aktuellen Trend-Länder der Haute Cuisine klingen an: Japan und Mexiko. Alle Sächelchen sind exakt handwerklich gearbeitet, schmecken knusprig und fein. Man fühlt sich mitten in der Welt – oder wie im weltoffenen Berlin.
Auch der nächste Gruß aus der Küche ist Artistik auf kleinstem Raum. Eine zierliche asiatische Tasse ist halbhoch gefüllte mit Crème brûlée, nicht süß auf Milchbasis, sondern feinherb auf der Grundlage einer Kohlrabi-Brühe. Auf der geflämmten knusprigen Schicht liegen Petitessen wie lindgrüne Kohlrabi-Würfelchen, orangefarbene Physalis und Kresse.
Als erster Gang wird Kaisergranat auf „Soljanka“ serviert, als Hommage an die ehemalige DDR-Küche im Ostteil der Stadt. Die Wahrheit ist, dass es sich bei dieser suppenartigen Soße um eine allerfeinste Krustentierbrühe handelt, aus der die Soljanka als Hybrid hervorgeht, angereichert mit Paprika, Schweinefett, Dill, Essig, Noilly Prat, ungemein köstlich und komplex, frisch, cremig, herb, süß, füllig – und der Schwanz des Kaisergranats so zart, so gut im Biss und mineralisch-süß, dazu etwas Schweinekinn und Algensalat. Das ist nicht mehr das kulinarische Kammerspiel wie zu Beginn, das ist das große Orchester, die Philharmonie.
Von Gang zu Gang konzentriert man sich als Gast mehr auf das Essen als auf die Atmosphäre im Raum. Ja fast gewinnt man den Eindruck, als sollten sich Interieur, legerer Service und die Musik aus Boxen der Nobelesse der Kochkunst etwas mehr anpassen – etwas weniger Party-Stimmung, etwas mehr ungezwungen-elegantes Gourmetrestaurant. Denn die Kochkunst ist im „Golvet“ doch das Außergewöhnliche und der Höhepunkt, das, was es woanders nicht ohne Weiteres gibt. Obwohl strikt vegane Gerichte fehlen, zeigt die Küche nicht zuletzt bei vegetarischen Gemüsegängen, was sie kann. Auch in diesem Fall ist Schmackes dahinter – Delikatesse und Überraschung. Die Schwarzwurzel wird auf dreierlei Art serviert: sanft gegarte helle Stangen, ummantelt mit dunkler Schwarzwurzelerde (entstanden nach zweitätiger Dehydrierung), süß-sauer eingelegten Schlaufen von der Schwarzwurzel und Schwarzwurzel-Chip, umzogen von Grapefruit, Chichoree, Nussbutter-Espuma und Trüffelscheiben. Wieder wunderbar vielschichtig: cremig, süß, bitter, herb, fein, subtil, nie langweilig.
Schließlich der Hauptgang: Salzwiesenlamm aus Nordfriesland, der Rücken butterzart gebraten, die saftigen Scheiben bestreut mit der afrikanisch-äthiopischen Gewürzmischung Ducca, in der Sesam, Kichererbsen, Kreuzkümmel und Minze vorherrschend sind. Welch schönes Ineinander: Nordfriesland und Äthiopien – Kochkunst am Puls der Zeit.
PS. Björn Swanson hat das „Golvet“ im März 2020 verlassen, neuer Küchenchef ist Joanas Zörner.
Erwin Seitz
„Golvet“, Potsdamer Straße 58, Berlin-Tiergarten