Chipperfield Kantine

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April 2019

Ein guter Ort

Die Chipperfield Kantine in Berlin-Mitte vereint moderne Gastronomie mit visionärer Architektur.

Just zwischen der August- und der Linienstraße, den beiden Galeriemeilen im Norden von Berlin-Mitte, verläuft die Joachimstraße. Maren Thimm, die in der Linienstraße das Restaurant „Lokal“ betreibt, betreibt in der Joachimstraße auch die „Kantine“ – keine Kantine im herkömmlichen Sinn, kein Ort, den man eigentlich nicht ernst nimmt, oft mit belangloser Einrichtung und Convenience Food, beschränkt auf die Belegschaft eines Unternehmens, sondern ein anregender Treffpunkt, sowohl Betriebskantine als auch offen für Passanten.

Großen Anteil an diesem Ort hat der Erbauer der Kantine, das Architekturbüro Chipperfield, das in Berlin insbesondere mit Gebäuden auf der Museuminsel für Furore sorgt: mit dem wiederbelebten Neuen Museum und der James-Simon-Galerie. Urbane Orte schaffen, jenseits von Kommerz, für die bürgerliche Begegnung, das ist das Mantra von Chipperfield.

So ist die „Kantine“, wie der Betrieb offiziell heißt, eigentlich die Chipperfield Kantine, weil sich hier die Mitarbeiter des Architekturbüros, rund einhundertzwanzig Leute, täglich treffen können, ob morgens zum Frühstück, ob mittags zum Lunch oder nachmittags zum Kaffee. Gleichzeitig steht die „Kantine“ auch Leuten aus der Nachbarschaft offen oder den Flaneuren der angrenzenden Achsen: der August-, der Linien- und der Torstraße.

Der Chipperfield Campus erstreckt sich in die Tiefe. Dem Vorderhaus folgt kein gewöhnlicher Hinterhof, sondern ein fließender Raum, in den Gebäude hineingestellt wurden. Der Besucher durchschreitet den Tordurchgang des Vorderhauses, fühlt sich nach Hinten gezogen und erblickt linker Hand einen einfachen Baukörper aus Beton, zweigeschossig, an der Vorderseite mit großen Fenstern, kompakt und doch transparent. Es ist die Kantine, der eine Terrasse vorgelagerter ist – eine verlockende, luftige Hofräumlichkeit.

Links die Chipperfield Kantine mit Terasse
© Simon Menges

Auf den ersten Blick erscheint es ungewohnt, dass ein modernes Gebäude mehr Betonwand als Glaswand zur Schau stellt. Ein Bau für die Ewigkeit, denkt man sich, nichts Ephemeres, Flüchtiges. Mir schießt der benediktinische Begriff der „stabilitas loci“ in den Kopf, der Ortsfestigkeit und Beständigkeit, so ganz untypisch für die Moderne und Berlin.

Aber der fließende Hofraum macht das Ganze gleich sympathisch, hinzu kommt die Terrasse, grün beschattet von Dachplatanen, der Boden belegt mit hellem Splitt, der wunderbar knirscht, wenn die Leute mit ihren Tellern und Gläsern hin und her laufen und einen Platz an den Biergartentischen suchen, die hellgrau gestrichen sind. Für die Terrasse und Begrünung war der belgische Gartenarchitekt Peter Wirtz zuständig, für den Bau der Kantine Alexander Schwarz, „Design Director“ und Partner von Chipperfield in Berlin.

Es sei nicht darum gegangen, so Schwarz, eine neue Typologie für die Kantine zu entwerfen, sondern ein typisches Chipperfield-Gebäude zu errichten, das vielseitig nutzbar ist und auch als Kantine eingerichtet werden kann. Hier können Architekturliebhaber und mögliche Auftraggeber erleben, wie sich die Räume eines Chipperfield-Baus anfühlen, wenngleich sie zunächst ungewöhnlich wirken, abstrakt und klar. „Die polierte Betonwand“, sagt Schwarz, „ist eine Allerkönnerin – sie ist Außen- wie Innenwand, bietet Schutz und Geborgenheit, Ruhe und Aufgeräumtheit, gibt nicht vor, mehr zu sein, als sie ist, echt und unverfälscht.“

Innen erblickt der Gast eine lange hellbraune Lederwandbank, davor kleine Tische. Und vor der Tischreihe steht ein langgestreckter Tresen aus Beton, bedeckt mit Marmor – teils Theke mit Kasse, Kaffeemaschine, einigen Glasglocken mit Gebäck darunter und Brotkörben, teils Arbeitsplatz für die Köche, dahinter wiederum der Herd und die Spüle. Die Küche arbeitet selbständig – und ist nicht, wie man oft liest, abhängig von der Küche im „Lokal“.

Innenraum der Chipperfield Kantine im Erdgeschoss, im Vordergrund rechts Alexander Schwarz, der Architekt des Gebäudes
© Ute Zscharnt für David Chipperfield Architects

Im oberen Gastraum stehen große Eichenholzholztische und Bänke, von David Chipperfield selbst entworfen. Und bodenlange, graugrüne Vorhänge bringen etwas Sanftes in den Raum. Man sitzt dort mit Leuten an den langen Tischen, die man nicht kennt, mit denen man aber leicht ins Gespräch kommt. Denn das Wasser, das gratis auf dem Tisch steht, wird unter den Gästen herumgereicht. Und sucht man nach angelsächsischen Begriffen, die die „Kantine“ gastronomisch charakterisieren können, so sind es „Live-Cooking“ unten und „Family-Style“ oben.

Innenansicht der Chipperfield Kantine im Obergeschoss
© Ute Zscharnt für David Chipperfield Architects

Es ist schön, hier zu sitzen, sei es drinnen, sei es draußen. Und die Kochkunst gibt sich so unverfälscht wie die Baukunst, mit frischen, natürlichen Zutaten: Salat mit Spinat, Gurke, gehobeltem Fenchel, Weintrauben, Schafskäse und milder Marinade, knackig und saftig; Süßkartoffelsuppe mit Curry oder Fusilli mit Kalbs-Hühner-Ragout. Täglich ist ein bisschen Italianità dabei. Aber es gibt auch anderes wie Kabeljaufilet, auf den Punkt gebraten, mit Spargel-Gurken-Schmand-Salat. Der Kaffee ist aromatisch und das hausgemachte Gebäck schmackhaft. Der Gast bestellt die Sachen an der Theke, bezahlt dort und bringt einen Teil des Bestellten an den Tisch. Doch die warmen Gerichte werden serviert, nett und freundlich.

Man erlebt das, was die digitale Welt nicht zu bieten hat, fühlt, wie es ist, wenn der menschliche Körper in einem körperhaften Raum steht, nimmt lebendige Sinnlichkeit wahr, Wärme, Düfte, Aromata, Blicke. Der Alltag, das Wohnliche, die Ernährung, die Bekömmlichkeit der Speisen und der Umgang mit Menschen – all das wird hier ernst genommen, ohne ernst und steif zu wirken, sondern heiter und munter.

Erwin Seitz

Kantine (Chipperfield Kantine), Joachimstraße 11, im Hof, Berlin-Mitte

www.kantine-berlinmitte.de