Anne-Dore Krohn & Denis Scheck: „Hungrig auf Berlin“

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Mai 2022

Der Geist sitzt mit am Tisch

Gespräch mit Anne-Dore Krohn und Denis Scheck über ihr Buch „Hungrig auf Berlin“

Erwin Seitz: Liebe Frau Krohn, lieber Herr Scheck, Sie legen gemeinsam ihr neues Buch vor: „Hungrig auf Berlin“. Wie haben Sie sich als Autoren-Duo überhaupt gefunden? Sie leben und arbeiten ja in verschiedenen Städten. Und wie kommt es, dass Sie sich als zwei bekannte Literaturkritiker jetzt aufs kulinarisch-gastronomische Parkett wagen?

Anne-Dore Krohn: Wir haben uns vor einigen Jahren in einem Hinterzimmer der ARD bei der Leipziger Buchmesse kennengelernt, als gerade schwitzende Käsebrötchen aufgefahren wurden, quasi in einem Moment des kulinarischen Tiefpunktes. Doch die Liebe zur Literatur brachte uns zusammen, wir bekamen Lust, gemeinsame Projekt auszuhecken – und wir steigerten uns kulinarisch, führten unsere Gespräche oft in guten Lokalen fort. Man kann beim Essen hervorragend über Bücher sprechen. Es dauerte nicht lange, bis die Idee aufkam, ein kulinarisch-gastronomisches Buch gemeinsam zu schreiben. Literaturkritik und Gastrokritik sind ja gar nicht so weit voneinander entfernt, da wie dort geht es um gute Geschichten.

Denis Scheck: Man kann auch den Teller lesen, das ist ein Lieblingsmotiv von uns immer schon gewesen: Beim Essen, im Restaurant geht es ums Narrativ. Zudem waren wir beide auch ein bisschen vorbelastet. Erstens zeichnet uns eine gewisse Verfressenheit aus, zweitens war meine Großmutter die erste Köchin von Theodor Heuss nach 1945, als er Bundespräsident wurde, sie machte mich mit der Kochkunst bekannt, gab Tricks und Tipps an mich weiter. Davon abgesehen, machte es einfach unglaublich viel Spaß, dieses Projekt auf die Karte zu setzen. Wir haben zu unserer Verblüffung feststellt, dass wir uns in guter Gesellschaft befinden: unter Literaturkritikern, die sich auch für Gastrokritik interessieren. Wir hatten große Vorläufer, Theodor Fontane, Kurt Tucholsky. Wir sind unserer literarischen Sozialisation mindestens so sehr von Reich-Ranicki und Fritz J. Raddatz geprägt wie von Gert von Paczensky und Wolfram Siebeck.

Erwin Seitz: Nun leben sie ja beide in verschiedenen Städten, in Berlin und in Köln. Was gab beim „Hunger“ für Berlin den Ausschlag?

Denis Scheck: Sie wissen doch: Liebe geht durch den Magen. Berlin gehört zu den aufregendsten kulinarischen Orten im Moment auf diesem Planeten, bestenfalls noch vergleichbar mit Barcelona. Das liegt daran, dass Berlin so eine unglaubliche Diversität an Restaurants aufweist. Mein Lieblingsladen, unser Lieblingsladen ist gerade die „Nomu Sake Bar“. Da sind Leute, die von San Franzisko nach Berlin gekommen sind, weil sie die Dämlacks von Microsoft nicht mehr ertragen konnten und sich nach kultivierten Gästen sehnten, die schätzen, was auf dem Teller ist.

Anne-Dore Krohn: Berlin ist natürlich meine Heimat, meine Herkunft. Die Stadt hat unheimlich viele Schritte nach vorne gemacht. Herz und Schnauze zeichnen uns Berliner immer schon aus, doch inzwischen kann man sagen, dass Berlin auch gastronomisch den Anschluss an die Welt gefunden hat. Es dauerte eine Zeitlang, bis das deutlich wurde. Es ist auch immer noch nicht bei allen angekommen, dass man in Berlin sehr gut speisen und trinken kann. Die Meinung, dass man an der Spree nur die Currywurst kennt, ist weit verbreitet. Wir glauben aber eher den Romanen, den Fiktionen, als der vermeintlichen Realität. Wenn man an die wunderbare Novelle von Uwe Timm denkt, „Die Entdeckung der Currywurst“, dann weiß man, dass die Currywurst keine Berliner, sondern eine Hamburger Erfindung ist. Uns ging es darum, zu zeigen, wie weit vorn Berlin gastronomisch ist, nicht nur in der Sterneküche, sondern in vieler Hinsicht, „high and low“.

Denis Scheck: Berlin lag auf der Hand. Man lebt als Literaturkritiker in Deutschland wie ein Mitglied des umherziehenden Hofstaats von Karl dem Großen, im Grunde ohne festen Wohnsitz. Ich bin – jedenfalls in pandemiefreien Zeiten – die Hälfte des Jahres unterwegs. Ich bin immer oft in Berlin gewesen, mal mit mehr, mal mit weniger Vergnügen. Es ist uns ein großes gemeinsames Anliegen, in unserem Buch auch einigen Pioniergestalten der Berliner Küche, wenn man es pathetisch ausdrücken möchte, ein Denkmal zu setzen. Ich denke insbesondere an Michael Hoffmann, den Anne-Dore zuerst in seinem Sternerestaurant „Margaux“, dann in der „Markthalle Neun“ kennengerlernt hatte.

Anne-Dore Krohn: Vor vielen Jahren habe ich über diese Begegnungen geschrieben. Ich war mit Michael Hoffman in Brandenburg, wo er Kräuter und Gemüse für seine Berliner Küche anbaute und die Idee einer regionalen Produktkultur vorantrieb.

Denis Scheck: Michael Hoffmann ist das Pendant zu Alain Passard in Paris. In Berlin sind ihm andere gefolgt und entwickeln heute den Gedanken einer regionalen Produktkultur fort, wie Marco Müller als Küchenchef im „Rutz“ oder Billy Wagner als Patron im „Nobelhart & Schmutzig“. Wir gehen in unserem Buch immer wieder mal zeitlich zurück und erzählen auf diese Weise auch die Geschichte des „Exils“, des heutigen „Horvaths“. Es erstaunte uns bei der Recherche, wie stark in Berlin die Wechselwirkung zwischen Literatur und Gastronomie ist. Die Stadt entpuppt sich als ein besonderer Ort, wo der Geist mit am Tisch sitzt.“

Erwin Seitz: Sie stellen insgesamt 32 Lokale vor, und zwar paarweise, in Kontrasten, „high and low“, wie sie sagen. Was war für Sie die größte Überraschung?

Denis Scheck: Den größten Lernprozess löste bei mir die Entdeckung eines kleinen Lebensmittelherstellers aus: „Mimi Ferments“, ein Laden, in dem japanische Würzmittel auf traditionelle Art gebraut werden, Sojasauce, Miso, Mirin. Man tritt ein und denkt sich zunächst: Das ist ein typischer Berliner Chaoten-Laden, der einem das Gefühl vermittelt, als sei man in einer harrypotterhaften Zauberküche angelangt sei. Dann erfährt und erlebt man, mit wie viel Lust die Leute experimentieren, und erstklassige Dinge produzieren, die weit über Berlin hinaus, deutschland- und europaweit, in der Spitzengastronomie begehrt sind und die Kochkunst verändern.

Anne-Dore Krohn & Denis Scheck: Hungrig auf Berlin. Marian 2022