Engelbecken Berlin-Charlottenburg

Seite

 

Gasthaus Engelbecken

August 2019

Ein Stück näher am Süden

Die „Speisewirtschaft Engelbecken“ in Berlin-Charlottenburg gehört zu den Pionierbetrieben des verjüngten Gasthauses von heute

Auf dem Weg zum verjüngten Gasthaus von heute sind in Berlin nicht zuletzt Süddeutsche im Spiel. Schon 1995 übernahmen drei Ankömmlinge aus München das „Engelbecken“ in Berlin-Kreuzberg. Vorbild sollte das „Gasthaus Zum Fischmeister“ in Ambach am Starnberger See sein, das seit einigen Generationen der Familie Bierbichler gehört. 1984 hatte es Annamirl Bierbichler, die Schauspielerin und Schwester des Schauspielers Josef Bierbichler, an ein linkes Kollektiv aus München verpachtet, unter der Bedingung, dass das Gasthaus eine Speisewirtschaft bayerischer Prägung bleibt.

So erzählt es Marion Moutell, die dort in den Achtzigern als Kellnerin arbeitete, zwei- oder dreimal in der Woche, während sie ansonsten in München der Malerei nachging. Zwischendurch zog sie nach Berlin, weil es ihr in der bayerischen Kapitale, wie sie sagt, „zu eng“ geworden war, und übernahm 1995 mit zwei weiteren Gesellschaftern, Wolfang Stoye, ihrem Mann, sowie Stefan Vetter, das „Engelbecken“. Man holte eine Zeitlang den Koch Karl Edelmann aus dem „Fischmeister“ hierher. Frau Moutell ließ sich von ihm das Kochen beibringen, bis sie selbst in der Lage war, den Posten der Küchenchefin zu übernehmen.

Schließlich zog das „Engelbecken“ 1999 in Berlin um: von Kreuzberg nach Charlottenburg, in den Witzleben-Kiez um den Lietzensee. „Wir haben uns bei der Suche nach einem neuen Ort Zeit gelassen“, berichtet Frau Moutell, „wir wollten keinesfalls in die anonyme Mitte ziehen, sondern in eine gewachsene innerstädtische Wohngegend. Hier geht es ja fast zu wie auf dem Dorf, es ist alles da: der kleine See, die Kirche und das Wirtshaus“. Die Leute aus der Nachbarschaft sowie aus anderen Vierteln der Stadt kehren an Werk- und Sonntagen im „Engelbecken“ ein, feiern dort Hochzeit, Geburtstag oder kommen zum Leichenschmaus.

Seit 2017 betreibt man im selben Haus auch noch ein Zweitlokal, die „Schankwirtschaft Engelbecken“, im Gegensatz zur „Speisewirtschaft Engelbecken“. Doch an sich sind beide Lokale Speisewirtschaften, nur dass die Schankwirtschaft auch dafür gedacht ist, dass der Gast einfach bloß dasitzt, ein Bier trinkt und sich unterhält. Gelegentlich sieht man hier sogar Gäste beim Doppelkopf-Spielen. Die Gerichte in der Schankwirtschaft sind etwas einfacher als in der Speisewirtschaft, kommen aber aus derselben Küche und sind nicht minder gut, ergänzt von bayerischen Wurstwaren wie Wurstsalat und Weißwürsten mit Breze. Am Wochenende ist die Schankwirtschaft geschlossen und steht Familienfeiern zur Verfügung.

Das Hauptlokal, die Speisewirtschaft, ist um einiges größer und stellt ein klassisches Berliner Eckgasthaus mit L-förmiger Raumaufteilung dar. Es war 1999 grundlegend saniert und entrümpelt worden. Dem Ganzen sollte nichts Antiquiertes anhaften. Der Besucher erblickt beim Eintreten helle, klare Räume, ein verjüngtes Gasthaus von heute – so wie es damals bei der Eröffnung in Berlin noch unbekannt war. Ein Pionierbetrieb.

Unentbehrlich für den Gasthauscharakter erschien der blanke Holztisch, an dem mehrere Leute zusammensitzen können. Man entschied sich für Tischplatten aus hellem Ahorn, die jeden Abend mit Kernseife gereinigt werden und sich wunderbar samtig anfühlen. Anfangs waren diese halblangen Tische für das Publikum noch ungewohnt. Jedes Paar wollte partout für sich allein einen Tisch haben. „Wir dachten wirklich schon darüber nach“, verät die Chefin, „ein paar Tische in der Mitte auseinander zu sägen; ließen es dann aber doch sein.“

Man hatte das richtige Gespür. Das klassische Gasthaus war im Kommen: das menschliche Miteinander am größeren Tisch, Umgang, Gespräch, Lebensart. Als dafür auch noch im Angloamerikanischen der Begriff „Family-Stil“ aufkam, konnte nichts mehr schief gehen. Mit einem Mal war der halblange Holztisch nicht mehr hinterwäldlerisch, sondern hip. Es ist heute schwer, in der Speisewirtschaft ohne Reservierung einen Platz zu bekommen, doch mit etwas Glück findet man dann noch einen in der Schankwirtschaft. Dort sind, der räumlichen Enge angepasst, die Tische kleiner und mit rotweißkarierten Decken geschmückt.

Zwischenzeitlich hat ein globaler Meinungsführer wie die New York Times das „Engelbecken“ entdeckt. 2018 war dort zu lesen, dass es in Berlin viele Lokale gebe, die von sich behaupten, das beste Wiener Schnitzel in der Stadt zu machen, doch das „Engelbecken“ habe tatsächlich das beste. So ist es, wirklich köstlich. Das Fleisch dafür stammt vom Rücken des Bio-Kalbs, gut abgehangen, butterzart und feinwürzig, die Panade wellenförmig souffliert und rösch, prachtvoll barock. Was das amerikanische Medium allerdings nicht verriet, ist, dass auch der Kartoffel-Gurken-Salat dazu umwerfend gut schmeckt, sämig und mild delikat, schon für sich genommen lohnend, das „Engelbecken“ einmal zu besuchen.

Man habe das Wiener Schnitzel vorübergehend mal von der Karte genommen, erklärt Frau Moutell, weil es für sie nicht unbedingt zur bayerischen Küche gehört. „Doch die Stammgäste gingen auf die Barrikaden“, fährt sie fort, „also setzten wir es wieder auf die Karte.“ Zentral für die bayerische Gasthausküche ist für die Chefin der Schweinsbraten mit Kruste, Kartoffelknödel und Krautsalat. Auch dafür stammt das Fleisch von Tieren aus artgerechter Haltung, und die Soße für den Braten wird selbstverständlich aus dem Bratensatz mit Knochen und Gemüse gezogen, verfeinert mit dunklem, malzbetontem Bier.

Das Entscheidende, was seinerzeit Karl Edelmann, der Koch aus dem „Fischmeister“, im „Engelbecken“ eingeführt hat, ist die Passion für hausgemachte Brühen und Soßen von bester Güte – bloß kein Pulver, bloß kein Convenience Food. Selbst für den Kartoffel-Gurken-Salat wird eigens eine Kalbsbrühe angesetzt, um ihm Gehalt und Feinheit zu verleihen; so ist er auch ein exzellenter Begleiter für das knusprig-saftige Backhuhn.

Das Temperament von Frau Moutell kommt hinzu. Sie findet keine Ruhe, bis ein Rezept ausgereift erscheint – und das kann Jahre dauern. Jedes Gericht wird sorgfältig rezeptiert. Man soll weder zu früh aufgeben noch zu lange daran herumbasteln, lautet das Credo der Köchin. Sowohl das Unausgegorene als auch das Verkünstelte ist ihr ein Dorn im Auge.

Das genaue und behutsame Garen spielt eine große Rolle. Der Tafelspitz vom Bio-Rind wird schonend und langsam gegart, später in feine Scheiben geschnitten und lauwarm mariniert mit Kürbiskernöl, Apfelessig, Limette, Meerrettich, begleitet von grünen Kapern, Frühlingszwiebeln und weißen Champignonscheibchen. Nichts Überdrehtes, sondern klassische Gasthausküche von bester Art, schlicht und anmutig, aber doch mit Pfiff, zart und differenziert.

Ein anderes beliebtes Gericht sind die Rahmpilze mit Semmelknödel und grünem Salat. Knödel – ob aus Semmeln, ob aus Kartoffeln – gehören zu einer Speisewirtschaft bayerischer Prägung unbedingt dazu. Gelegentlich kann es jedoch vorkommen, dass der Semmelknödel ein bisschen zu trocken und brotig schmeckt, doch die Rahmpilze sind erstklassig.

Mittlerweile hat sich Frau Moutell als Senior-Küchenchefin schon etwas zurückgenommen. Junior-Küchenchef und Nachfolger ist Maik de Riese-Meyer, der den Stil das Hauses fortsetzt. Er hatte vormals im Gourmet-Restaurant „Margaux“ unter Michael Hoffmann gekocht, über viele Jahre ausgezeichnet mit einem Michelin-Stern, bis das Lokal in der Nähe des Brandenburger Tors 2014 geschlossen wurde. Hoffmann hatte sich im „Margaux“ mehr und mehr der Gemüse- und Kräuterküche zugewendet und dafür westlich von Potsdam einen eigenen Garten angelegt. Nun sorgt der Gärtner und Gemüsehändler Peter Janoth in Groß Kreuz für diesen Garten und beliefert auch das „Engelbecken“ mit Gemüse und Kräutern von besonderer Würze.

Typisch für das verjüngte Gasthaus von heute, dass sich dort auch Köche aus der Hochküche wohlfühlen und die eine oder andere Idee mitbringen. Maik de Riese-Meyer fügt der Speisewirtschaft bayerischer Prägung unaufdringlich pflanzlich-vegane Speisen hinzu und hat ein stärkeres Faible für Fische. Hinreißend die sommerliche Vorspeise „Tomate aus Peters Garten“. Auf weißem Teller liegen schlicht unterschiedliche Tomaten, halbiert, rund, oval, rot, gelb, grün. Jedes Stück schmeckt ein wenig anders, ist aber im Grundton stets süß-säuerlich und delikat, abgerundet von grasig-würzigem Olivenöl und frisch duftendem, pfeffrig-süßem Basilikum und Basilikumblüten, wie man es selten auf der Zunge hat. Fast gewinnt man den Eindruck, als rückten Berlin und Brandenburg ein Stück näher an den Süden heran.

Marion Moutell und Maik de Riese-Meyer unter einem Bild von Frau Moutell im Engelbecken

Die Senior-Küchenchefin hat jetzt wieder etwas mehr Zeit zum Malen. Bilder von ihr hängen im Lokal. Und wenn es einen Stil gibt, dem sie sich zugehörig fühlt, dann ist es Art brut, wörtlich rohe Kunst oder autodidaktische Kunst von Laien, wenngleich Frau Moutell vormals, in ihrer Münchner Zeit, einige Kurse an der Akademie der Bildenden Künste besucht hatte. „Ich mache Striche und Linien“, sagt sie, „und plötzlich sehe ich etwas, das ich heraushole.“ Auf einem der Bilder im Lokal ist in schleierhaften Umrissen eine Frau im Dirndl zu erkennen, farben- und lebensfroh, fast ein wenig engelsförmig, an Chagall erinnernd, mit breitem Becken, Engelsbecken, Engelswesen, Kellnerin, die die guten Dinge bringt, bayerisch-barock, gleichzeitig leicht und schwebend, ohne Enge.

Erwin Seitz

Speisewirtschaft und Schankwirtschaft Engelbecken, Witzlebenstraße 1, Berlin-Charlottenburg

www.engelbecken.de