Markthalle Neun

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Dezember 2018

Wo Markt ist, da beginnt die Stadt

Die Markthalle Neun in Berlin Kreuzberg.

Noch vor ein paar Jahren schien es so, als sei die traditionelle Markthalle am Ende. Fast jede deutsche Stadt besaß einmal ein solches Gebäude, um die Versorgung der Bevölkerung mit frischen Lebensmitteln zu sichern. Und in größeren Städten gab es jeweils mehrere davon. Nicht wenige sanken aber bereits im Bombenhagel des Zweiten Weltkriegs in Schutt und Asche und wurden nicht mehr wiedererrichtet. Denn die neue Form des Supermarktes stellte die herkömmliche Lebensmittelhalle mit frischen Waren in den Schatten.

Florian Niedermeier wuchs in den siebziger und achtziger Jahren in Augsburg auf und lernte dort noch den großen Stadt- und Bauernmarkt mit einer Vielzahl an Ständen kennen, teils in der Halle, teils außerhalb: für Gemüse, Obst, Brot, Fisch, Fleisch, Imbiss, Café, Blumen. „Unsere Familie kaufte damals zwar auch im Supermarkt ein“, gesteht er, „aber wir gingen ebenso zum Markt, weil er neben frischen, guten Waren so etwas wie Stadtgefühl bot.“

Vorläufig hatte er jedoch mit der Lebensmittel- und Gastronomiebranche nicht viel am Hut. Er studierte nach den Wünschen der Eltern Jura – und brach das Studium ab. Anschließend absolvierte er eine Lehre als Fotograf. Schließlich folgte ein Studium der Kulturwissenschaft in Lüneburg mit dem Schwerpunkt der Kulturvermittlung, insbesondere der zeitgenössischen Kunst. Doch auch die anschließend Arbeit im Kunstmilieu erschien ihm nicht wirklich sinnerfüllend und mutete etwas abgehoben an.

Florian Niedermeier
© Markthalle Neun

Demgegenüber ließ ihn die Erinnerung an den Stadt- und Bauernmarkt nicht los. „Wo Markt ist“, sagt der studierte Kulturwissenschaftler heute, „da beginnt die Stadt“ Und wer einen guten Lebensmittelmarkt organisiere, fährt er fort, der vermittle auch Kultur. Es gehe darum, die globale Standardisierung der immergleichen Ketten in den Shopping Malls zu überwinden und für eine Ernährungswende zu sorgen: mit Hilfe von kleinteiligen Lebensmittelhallen, die eine Welt des Regionalen, des Bäuerlich-Handwerklichen und der Nachhaltigkeit entfalten. Auf den Markt gehen, sich umschauen, sich an Fraben erfreuen und Düfte wahrnehmen, auswählen und Gespräche führen, später daheim kochen, gemeinsam essen und trinken: all das sei gelebte Kultur. Niedermeier glaubt daran, dass immer mehr Menschen diese europäische Lebenart wieder entdecken.

Zu guter Letzt verschlug es Niedermeier kurz nach der Jahrtausendwende nach Berlin, wo es damals noch drei Markthallen in städtischem Besitz gab, darunter die Markthalle Neun in Kreuzberg. Da diese Halle nur noch Verlust machte, sollte sie an den Meistgebietenden verkauft werden. Eine Bürgerinitiative, der Niedermeier beitrat, konnte den Berliner Senat jedoch davon überzeugen, dass nicht jener Bewerber den Zuschlag erhalten sollte, der das meiste Geld böte, sondern der, der das beste Konzept vorlege.

In der Halle befanden sich um 2008 fast nur noch Discounter der Lebensmittel- und der Bekleidungsbranche. Niedermeier und seine Geschäftspartner, Bernd Maier und Nikolaus Driessen, konnten nach zähen Verhandlungen und Probeläufen die Halle 2011 erwerben, weil sie eine Rückkehr zu kleinteiligen Lebensmittelhalle anpeilten, die als solche zugleich eine Nachbarschaftshalle und Mittelpunkt des Quartiers sein sollte.

Es war Stehvermögen vonnöten. Denn nicht jeder kleine Betrieb der ersten Stunde unter neuer Leitung ist heute noch dabei. Aber nach und nach entstanden, nicht zuletzt angeschoben durch Marktgespräche in der Halle, neue Betriebsgründungen, die zwischenzeitlich in Berlin von sich reden machen und sogar die Haute Cuisine in der Hauptstadt anregen. Innerhalb kurzer Zeit wurde die Markthalle Neun zu einem wichtigen Element im kulinarischen Netzwerk der Stadt – ein Forum nicht allein für Waren und sinnliche Genüsse, sondern auch für menschliche Begegnungen und Inspirationen. Etwa die Hälfte der Besucher kommt aus der Nachbarschaft und dem Quartier, dem Wrangel-Kiez, die andere Hälfte strömt aus dem übrigen Teilen der Stadt herbei, oft noch ergänzt von Touristen.

Traditionelle Markthallenarchitektur mit kleinen Ständen
© Markthalle Neun

Die große luftige Halle stammt aus der Zeit um 1890 und erinnert mit ihren schlanken gusseisernen Stützsäulen sowie den getakteten Fensternreihen im Dach regelrecht an eine gotische Kathedrale. So oder so ein eindrucksvoller Raum für die Darbietung von Lebensmitteln und Blumen.

In der Mitte sieht man die gläserne Bäckerei „Sironi“, einen jener Betriebe, der hier im Austausch mit den neuen Machern der Halle erfunden wurde. Der Kunde kann durch Glasscheiben hindurch Alfredo Sironi – der eigentlich ein studierter Historiker ist – und seinen Gesellen bei der handwerklichen Arbeit zuschauen: beim Kneten, Formen und Backen von Pizza, Foccacia, Ciabatta und großen knusprigen Weißbrotlaiben. Diese Sachen schmecken so gut, dass sie nicht bloß über den Ladentisch verkauft werden, sondern auch den Weg in die Spitzengastronomie und Hotellerie finden, etwa in das exklusive „Hotel de Rome“ am Forum Fridericianum Unter den Linden.

Nicht weit von diesem Stand entfernt, stößt der Besucher auf die gläserne Metzgerei „Kumpel & Keule“, abermals mit der Möglichkeit, den Metzgern beim Wurstmachen zuzugucken. Die Markthalle ist so auch Schaubühne und Theater, aber ebenso ein Ort handwerklicher Transparenz. Neben den Würsten sieht man wunderbar marmoriertes, mit Fettsträhnen durchzogenes Fleisch in der Theke. Ein Sternerestaurant wie das „Einsunternull“ bezieht von hier die Oberschale von der zehn Jahre alten Weide-Kuh aus der Muttertierhaltung, das Fleisch trocken am Knochen gereift, mit umwerfend reichem und tiefem Geschmack.

In den Keller der Halle zog die Craft-Beer-Brauerei Heidenpeters ein, die wiederum ein Gourmet-Restaurant wie das „Nobelhart & Schmutzig“ nicht nur mit erstklassigem Pale Ale beliefert, sondern auch mit Rauch- und Sauermalz, das sich dort plötzlich im Dessert-Bereich wiederfindet. Desgleichen wurde im Keller eine Manufaktur für Tofu geschaffen: „TofuTussis“ genannt. Man verwendet Sojabohnen aus deutschem Bio-Anbau und unterlässt es, die Tofu-Masse zu pasteurisieren. Dadurch erhalten sich feinaromatische Nuancen, die man sonst bei dieser Speise nicht kennt. Man kann das Ergebnis oben in der Halle probieren.

Anfangs der Woche sind nur einige Betriebe und Stände in der Halle geöffnet, weil es nach dem Wochenende eher ruhig zugeht. Doch von Tag zu Tag nimmt das Geschäft im Laufe der Woche wieder zu. Vorläufiger Höhepunkt ist der Street Food Thursday. Das Gebäude füllt sich dann am späten Nachmittag mit Halbprofis, die hinter ihren mobilen Ständen selbstgemachte, frische Gerichte aus unterschiedlichen ethnischen Küchentraditionen anbieten: schmackhaft, nährend und gesund. Die Halle wird dann abends mit Besuchern knackvoll. Internationale Medien berichten darüber und locken Gäste und Touristen aus aller Herren Länder hierher.

Am Freitag und Samstag findet der Wochenmarkt statt: quasi die Halle in voller Besetzung mit Gemüse- und Obstständen, besten Waren aus der Region, Milch- und Käsegeschäften, Pasta-Manufaktur, Barbecue-Grill, Kantine, Café und so fort. An den beiden Eingängen der Halle betreibt Niedermeier mit seinen Partnern die Gastronomie schließlich selbst: östlich, zur Eisenbahnstraße hin, das „Kaffee 9“ mit eigener Rösterei und ausgezeichnetem Feingebäck von der Kreuzberger Bäckerei „Albatross“ – sowie, seit kurzem, westlich, zur Pücklerstraße hin, das „Weltrestaurant Markthalle“. Es soll zukünftig noch mehr als bislang das vorzügliche Warenangebot des lokalen Lebensmittelmarktes nutzen. Und die Craft-Beer-Brauerei Heidenpeters im Keller des Hauses schuf für das Lokal auch schon ein eigenes Hausbier: ein überaus feines, süffiges Helles.

Typische Marktszene
© Markthalle Neun

Niedermeier und seine Partner waren von Anfang an weder in der Lage noch willens, viel Geld in die Hand zu nehmen und Pläne aus der Retorte umzusetzen. Vielmehr lotete man behutsam die vorhandenen Möglichkeiten aus, suchte das Gespräch, regte an und tat, was in eigenen Kräften stand, damit sich wieder eine lebensvolle Markthalle mit frischen Sachen und vielen Menschen entwickelt, Händlern und Handwerkern, Käufern und Flaneuren. Es ist bis heute keine Schickimicki-Halle geworden, sondern eine, die ihren Volkscharakter bewahrt. Es ist schlicht das Echte und Würdevolle der Lebensmittel- und Gastronomiebranche zurückgekehrt – ein Pionierbetrieb in der Stadt und weit über ihre Grenzen hinaus.

Markthalle Neun, Berlin-Kreuzberg, Eisenbahnstraße 42/43, markthalleneun.de