Vegetarische Küche 2015

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Esskultur, August 2015

Vegetarier und Flexitarier als gesunde Feinschmecker

Wer sich heutzutage fleischlos oder nur mit wenig Fleisch ernährt,ist in Sachen Gesundheit up to date

Fast monatlich, so gewinnt man den Eindruck, kommt derzeit ein neuer Food-Trend in Mode: von der strikt pflanzlich-veganen Küche bis hin zur vorgeschichtlich-steinzeitlichen Ernährungsweise, die – dem diametral entgegen – hauptsächlich auf Fleischverzehr beruht. Nahezu jede Richtung führt vermeintlich zwingende Argumente an, warum man von nun an so und nicht anderes essen soll. Die kulinarische Debatte wird häufig mit religiös-ideologischen und weltanschaulichen Vorstellungen verknüpft, ganz so, als ließe sich auf diese Art Erlösung verheißen.

Die Küchenstile sowie die Menschen selbst dürften damit überfordert sein. Evolutionsgeschichtlich ernährt sich die menschliche Spezies seit ein paar Millionen Jahren von Mischkost, von Pflanzen wie vom Fleisch der Tiere, und seit man gelernt hat, mit dem Feuer umzugehen, isst man die Speisen sowohl roh als auch gegart. Die Verdauungsorgane des Menschen haben sich darauf eingestellt: auf die Mischkost, auf Pflanzen und Fleisch, Rohes und Gegartes.

Für Richard Wrangham machte erst der Umgang mit dem Feuer den Menschen zum Menschen. In seinem Buch „Feuer fangen“ führt er aus, dass gegarte Nahrung leichter verdaulich ist und mehr Energie liefert als rohe. Das Erhitzen der Lebensmittel übernimmt quasi die Vorverdauung. Der Urmensch musste nicht mehr so viel Zeit für das Verdauen aufbringen, konnte mehr Energie in die Entwicklung des Gehirns stecken. Während sich die Verdauungsorgane verkleinerten, wuchs der Schädel. Der stärkere Verzehr von rohem Fleisch hätte noch nicht dazu geführt. Nicht das Fleisch, sondern das Feuer, die Kunst des Garens, ist das eigentliche Element menschlicher Ernährungsweise.

Vorläufig musste man sich keine großen Sorgen machen, dass das Fleisch und das Gegarte überhandnähmen, weil man nicht jeden Tag vom Jagdglück begünstig war. Bekömmlich wirkte wohl von jeher eine ausgewogene Ernährung: ein Essen mit Pflanzen und mit Fleisch, Rohkost und Gegartem, begleitet von viel Bewegung. Während gegartes Fleisch viel Energie und Kraft bot, sorgte pflanzliche Rohkost für ein vitaminreiches Essen und ein Gefühl der Lebendigkeit.

Der Mensch blieb flexibel, konnte sich der Situation anpassen, mal mehr von diesem, mal mehr von jenem essen, je nach dem Grad der kulturellen Entwicklung. Heute, da viele Menschen kaum noch körperlich schwer arbeiten, tut der Verzehr von pflanzlicher Rohkost und gegartem Gemüse der Regulierung des Gewichts und der Gesundheit gut. Ernährungswissenschaftler wie Claus Leitzmann empfehlen eine vorwiegend pflanzliche Nahrung, roh wie gegart, in Maßen ergänzt von Fleisch. In moderner Begrifflichkeit spricht man vom Flexitarier, wenn sich jemand vorwiegend pflanzlich ernährt, aber dann und wann auch Fisch und Fleisch aus artgerechter Tierhaltung genießt.

Der Zug zu mehr vegetarischen Gerichten und zu mehr Rohkost scheint zivilisatorisch angemessen zu sein, ohne dass die Notwendigkeit bestünde, sich gänzlich darauf zu beschränken. Unter allen Food-Trends dürfte sich die vegetarische Küche nachhaltiger als andere entwickeln, egal, ob der Gastronom ein neues vegetarisches Restaurant eröffnet oder ob er in seine Speisekarte mehr pflanzliche Gerichte einbaut als bisher. So oder so geht es darum, auch fleischlose Kompositionen verlockend zuzubereiten und nicht länger stiefmütterlich zu behandeln.

Für den aufgeweckten Zeitgenossen soll beides zusammenkommen: Ernährungsbewusstsein und Delikatesse. Der heutige Gourmet will ein gesunder Feinschmecker sein. Schon die Salatmarinade sollte etwas Besonderes an sich haben, nicht einfach nur bestehend aus Essig und Öl, als industriell vorgefertigte Mischung, sondern als individuelle Komposition, etwa mit gutem Olivenöl von bestimmter Herkunft, dazu Apfelbalsamessig, Lindenblütenhonig, frisch gepresster Knoblauch, frisch geriebenem Ingwer ohne Schale und so fort. Der Koch sollte nicht denken: Ach, das ist ja bloß eine Salatmarinade; in die muss ich nichts investieren. Ein solches Denken ist nicht mehr angemessen.

Der Begriff der vegetarischen Küche erlaubt – gegenüber der veganen – ja auch die Verwendung der Produkte von lebenden Tieren, wie Eier, Milch und Milchprodukte, Rahm, Käse, sowie Honig. Es handelt sich um vorzügliche Aromaträger, die gezielt eingesetzt werden sollte. Wie wunderbar schmeckt doch ein Ei, das von einem Huhn aus artgerechter Haltung stammt. Viel zu selten noch erscheint das pochierte Ei über gegartem buntem Gemüse. Wie herrlich, wenn das Eigelb zerfließt.

Oder man nehme die heimische Teigküche als kulinarische Herausforderung an, mache beispielsweise die Spätzle täglich frisch und verwende für die Käsesoße regionale, mitteleuropäische Hartkäse und benenne sie: Allgäuer oder Vorarlberger Bergkäse, Appenzeller, Emmentaler. Es muss aber nicht immer die Käsesoße sein; köstlich schmecken die Spätzle auch mit Tomaten-Sugo aus San-Marzano-Tomaten, die in diesem Fall sogar aus der Dose stammen dürfen, in der sich quasi der Sommer konserviert hat. Spätzle verbinden sich natürlich ebenso vorzüglich mit Rahmpilzen und sautiertem Gemüse. Auch der Semmelknödel verdient als Hauptzutat mehr Beachtung, etwa als Käseknödel, in Scheiben gebraten und mit geschmolzener Butter und Salbei serviert.

Die Sparte der Teig-, Knödel-, Risotto-, Getreide- und Kartoffelgerichte lässt sich spielend ausbauen, immer aufs Neue mit Kräutern, Gemüsen, Gemüsefond, Käsen, Rahm, Ölen, Essigen, Nüssen kombiniert. Man gare einmal ältere Getreidesorten wie Einkorn und Grünkern, und man wird erstaunt sein, wie aromatisch diese Sachen schmecken. Zudem sollte man sich nicht scheuen, das Gemüse unterschiedlich zu garen: mal sanft im Dampfgarer; mal scharf angebraten in der Pfanne. Die pflanzliche Nahrung verdient es, variabel behandelt zu werden.

ERWIN SEITZ