Oktober 2018
Hauptstadtbühne
Das „Borchardt“ in Berlin-Mitte
Von den führenden Berliner Häusern und Restaurants, die im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts eröffnet wurden, hat immerhin eines im originalen Zustand teilweise überlebt: das „Borchardt“ – im Herzen der Stadt, nicht weit vom Gendarmenmarkt und der Friedrichstraße entfernt. August Friedrich Wilhelm Borchardt hatte das Restaurant 1853 gegründet, und im Jahr 1900 entstand dann neben dem Stammhaus ein zweites Gebäude für das Feinkostgeschäft, das man mit dem Restaurant verband. Im Stadtführer „Berlin für Kenner“ von 1912 hieß es über das „Borchardt“: „Sehr diskret und vornehm eingerichtet und hochgeschätzt von den Gourmets (…). Kleine Nebensäle, in denen der Kronprinz manchmal mit seiner Umgebung nach dem Theater soupiert.“
Während das Haupthaus im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde, blieb das Nebenhaus mit dem hallenartigen Raum für das Feinkostgeschäft erhalten. In der Endphase der DDR wurde dieser Ort nur noch als Lagerraum genutzt. Doch Anfang der neunziger Jahre hatten Roland Mary und Marina Richter eine feine Nase für zukünftige Entwicklungen in Berlin-Mitte und entdeckten hinter der kolossalen wilhelminischen Fassade die Überbleibsel des alten „Borchardt“. Es sollte für sie dort kein hoch formelles Restaurant entstehen, das an alten Zopf erinnert hätte, sondern ein neues Lokal, das zeitgenössische Lebensart, ein gewisses Laissez-faire, Weltoffenheit verkörpern würde, mit nur leisen Anklängen an eine imperiale Vergangenheit, die sich aus dem Charakter des Gebäudes ergeben.
Mit denkmalpflegerischer Akkuratesse wurde die rote Sandsteinfassade gereinigt und teilweise rekonstruiert. Und so wie außen geschossübergreifende Pilaster erhaben wirken, so erzeugen innen vier große Säulen aus graugrünem Stuckmarmor ein Gefühl des Unerschütterlichen und Ewigen – obwohl der Berliner sonst nicht unbedingt Ewigkeitsansprüche erhebt, sondern lieber mit der Zeit geht. Doch so eine Säule tut ihm zwischendurch gut – einfach einmal sein zu dürfen und nicht immerfort ein anderer werden zu müssen.
Die Bodenfließen mit abstrakten Pflanzenmotiven rekonstruierte man ebenso wie das Wandmosaik, das im pompejanischen Stil eine Bacchantin zeigt. 1992 wurde das neue „Borchard“ eröffnet und musste vorrübergehend nochmal geschlossen werden, weil die vielen Baustellen ringsum den Zugang nahezu unmöglich machten; doch wurde es von 1995 an endgültig wieder eine prominente Adresse.
Das „Borchardt“ ist kein intimes Restaurant, sondern nach Pariser Vorbild eine großräumige Brasserie mit roten Polsterbänken und glitzernden Messingbügeln. Es stellt in Berlin eine neue Generation der Gastronomie dar: ungezwungen-elegant. Das Lokal soll für den Gast frei nutzbar sein, für den täglichen Gebrauch bestimmt. „Man kann es einfach in Anspruch nehmen, wird in nichts gepresst“, erklärt Mary. Allerdings benötigt der Gast schon ein gewisses Zutrauen, dieses Lokal zu betreten. Es geht nicht gemütlich zu, sondern quirlig. Man sitzt dicht an dicht. „Hier findet große Stadt statt“, meint der Patron.
Das „Borchardt“ ist zu einem Sammelplatz für inoffizielle Gespräche der Berliner Republik geworden. Bundespräsidenten a. D., Altkanzler, Kanzler oder Kanzlerin, Minister, Abgeordnete, Diplomaten stoßen auf Wind- und Modemacher, Lobbyisten, Journalisten, Schauspieler, Filmregisseure, Maler, Architekten und andere polyglotte Gäste. Mittags und abends herrscht ein ständiges Kommen und Gehen, Bewegung in den Augen, Sehen und Gesehen-Werden, ohne Aufhebens zu machen. Es ist eher eine Selbstverständlichkeit, da zu sein.
Gelegentlich schneien Hollywoodstars herein, wie die bezaubernde Kate Winslet und Tom Cruise. Oder Angela Merkel und ihr Mann Joachim Sauer kommen samstagsabends, erhalten einen Tisch im innersten Zirkel des Lokals, im Sanktuarium zwischen den vier großen Säulen, plaudern munter, ganz so, als ob sie sich gegenseitig erzählen würden, was jeder so während der Woche erlebt hat.
Das Borchardt ist eine weltstädtische Bühne – und der Patron seinerseits eine Mischung aus Bohemien und Professional. Er besitzt eine regelrecht klassische, zeitgenössische Patchwork-Biographie und ist ein kreativer Quereinsteiger der Gastronomie. Der geborene Saarländer ist gelernter Augen-Optiker und abgebrochener Ingenieurstudent, lernte Saxophon und bereiste Indien, bis er durch Marina Richter in den achtziger Jahren in West-Berlin an die Gastronomie herangeführt wurde. West-Berlin sei damals, zur Mauerzeit, erzählt er, schon weltoffen gewesen, aber verschlafen. Heute hingegen berühren sich für ihn in der Hauptstadt die unterschiedlichen Szenen aus Wirtschaft, Politik und Kultur. Es gebe mehr Leute, die ausgehen, versiert sind, Anspruch haben.
Übertriebener Ehrgeiz, unsinniger Luxus, Überversorgung des Gastes sind Mary fremd. Er schätzt das Abgeklärte und gibt als Gastgeber einen gewissen Takt vor – und trifft den Nerv der Zeit: Sein Restaurant ist geradlinig und gepflegt eingerichtet, ohne Rüschen und Plüsch; der Service erscheint in klassischem Schwarz und Weiß, ohne Aufdringlichkeit; die Küche ist europäisch-großbürgerlich, ohne Chichi. „Seezunge natur, nicht hochkant gebraten“, pointiert Mary.
Heute wie damals im alten „Borchardt“ stehen Austern und Hummer auf der Karte, ebenso Pasta, Kalbsnieren in Senf oder Kalbskotelett mit Morchel-Rahm. Mittags gibt es ein preiswertes, tadelloses Menü mit zwei Gängen. Am liebsten aber bestellt die Elite der Berliner Republik das kross gebackene Wiener Schnitzel mit Kartoffelsalat und trinkt dazu Riesling aus dem Rheingau oder, noch besser, Weißburgunder aus der Pfalz. Seit Jahren bleibt sich das Lokal mehr oder minder gleich und verkörpert zeitgemäßen Stil: sachlich, beständig, lässig, elegant, weltläufig.
Erwin Seitz
Restaurant „Borchardt“ in Berlin-Mitte, Französische Straße 47