Reise nach Warschau

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Polen, März 2008

So schmeckt das neue Polen

Das polnische Borchardt heißt „Ale Gloria“: Im Warschauer Restaurant nahe der Börse und dem Parlament trifft sich die neue Elite.

Schlossplatz in Warschau
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Schon im Alter von zehn Jahren habe sie für Fidel Castro zum ersten Mal eine Torte gebacken, erzählt Magda Gessler, die Besitzerin des „Ale Gloria“, eines neuen Restaurants in Warschau, wo sich die Schönen, Betuchten und Einflussreichen ein Stelldichein geben, ähnlich wie in Berlin im „Borchardt“ oder im „Grill Royal“. Ihr Vater sei in mehreren Ländern Korrespondent der polnischen Presseagentur gewesen, wodurch sie selbst weit herumgekommen sei. Sie nennt unter anderem Kuba, Mexiko und Spanien. In Madrid habe sie Malerei studiert und ihr erstes Lokal eröffnet, um sich das Studium zu finanzieren.

Die Wirtin beherrscht den Fluss der Rede und sprüht vor Lebenskraft. Sie versteht es, ihren exotischen biographischen Hintergrund ins rechte Licht zu rücken und einen Hauch des Glamourösen zu verströmen. „Ale Gloria“ heißt nicht umsonst wörtlich übersetzt „Welch eine Herrlichkeit“. Ihr Großvater väterlicherseits sei ein polnischer Aristokrat aus Vilnius gewesen und seine Frau eine Florentinerin, ihr Großvater mütterlicherseits ein Berliner und die Großmutter eine Moskauerin. Sie selbst begreift sich gleichermaßen als polnische Patriotin wie als Europäerin und sieht es regelrecht als ihre Mission an, durch ihre Gastronomie ein heiteres, selbstbewusstes Polen zu fördern. Sie sitzt mit dem Gast am Tisch, bestellt eine gebratene Gänsestopfleber und ein Gläschen Sauternes. Ihre langen blonden Haare sind am Hinterkopf lässig zusammengebunden, das Gesicht ist dezent geschminkt. Sie trägt eine geschmeidige, beige Strickjacke, darunter eine rote Bluse mit großzügigem Dekolleté.

Frau Gessler ist in den Kolumnen der Warschauer Presse präsent. Nicht wenige bewundern sie oder zollen ihr Respekt, andere sind irritiert und hegen Neid wenn nicht Argwohn. Sie gilt vielen als Paradebeispiel jener Warschauer Gesellschaft, die mit Vehemenz aus der polnischen Hauptstadt ein „östliches New York“ machen will und von kritisch-spöttischen Beobachtern als „Warszawka“ bezeichnet wird, als eine neureiche Bagage, die ihr Schäfchen ins trockene bringt. Doch im Gegensatz zur ersten politischen Aufbruchsstimmung in den neunziger Jahren, als viele Polen den Eindruck hatten, man könne es nur mit illegalen oder halblegalen Mitteln zu etwas bringen, setzt seit dem polnischen Betritt zur Europäischen Union eine zweite Aufbruchsstimmung ein, die ökonomisch solider fundamentiert ist und den Menschen das Gefühl gibt, auch mit rechtlichen Mitteln eigenen Wohlstand schaffen zu können. Im „Ale Gloria“ begegnet man jedenfalls kaum Knallprotzen, im Gegenteil, die „Warschauer New Yorker“, die dort verkehren, sind darum bemüht, sich von russischen Emporkömmlingen, die die Puppen tanzen lassen, abzugrenzen.

Die inneren Bezirke von Warschau liegen malerisch auf einem Plateau über dem linken Weichselufer. Von Norden nach Süden reihen sich historische Viertel, die nach der Zerstörung durch die Deutschen mit großem Aufwand wieder aufgebaut und in vielen Einzelheiten liebevoll restauriert wurden, um sich das eigene Gedächtnis nicht mehr nehmen zu lassen. Die Gebäude verfügen selbst schon wieder über eine reizvolle Patina oder wurden in jüngerer Zeit erneut frisch herausgeputzt. Die Kette der traditionsreichen Quartiere beginnt nördlich mit der Neustadt, die bereits im späten Mittelalter gegründet wurde, gefolgt von der Altstadt, die in ihrer Anlage nur ein paar Jahrzehnte älter ist, südlich abgeschossen durch das königliche Schloss mit Schlossplatz, woran sich wiederum die Krakauer Vorstadt knüpft.

Wer glaubt, es gäbe keine Flaneure mehr, komme hierher. Während etwa in Berlin an einem Sonntagabend an der Promenade Unter den Linden nur ein paar versprengte Touristen zu sehen sind, gehen hier Tausende von Menschen jene Hauptachse auf und ab, die sich durch Neustadt, Altstadt und Krakauer Vorstadt zieht: über Freta, Nowomiejska, Swietojanska, Pla Zamkowy und Krakowskie Prezedmiesie. Es sind neben den Besuchern der Stadt gerade die Warschauer selbst, die Lust haben, an den historischen Kulissen vorbei zu defilieren: an Bürgerhäusern mit Renaissancefassaden, prachtvollen barocken Kirchen und Palästen, während an manchen Querschneisen die Wolkenkratzer hervorschauen, die weiter westlich an der Aleja Jane Pawla II. das neue Finanzzentrum bilden und Energie wie Optimismus vermitteln. Dazwischen schieben sich Gebäude in stalinistisch-klassizistischer Manier oder sozialistischer Bauhausmoderne.

In den historischen Stadtteilen herrscht noch wenig Kommerz. Man kann sich der Illusion hingeben, in früheren Jahrhunderten einzukehren. Da und dort erblickt man kleine Geschäfte, teils mit Nippes, teils mit nett dargebotenen Lebensmitteln. Man stößt noch selten auf Feinkostläden oder Weinhandlungen nach westlichem Standard, doch die jungen Leute sitzen in zeitgemäß eingerichteten Cafés oder Café-Bars und verkörpern den neuen polnischen Lebensstil, der genug davon hat, ewig nur an eine leidvolle Vergangenheit zu denken. Man will etwas lernen, arbeiten und sich vergnügen.

An der Promenade Krakowskie Przedemiesie (Krakauer Vorstadt) begegnet man diesem Menschenschlag besonders häufig, nicht zuletzt weil hier die Universität angrenzt. Die attraktive Meile mündet ihrerseits in eine Straße namens Nowy Swiat (Neue Welt), über die man den Plac Trezech Krzyzy (Platz der drei Kreuze) erreicht. Hier gruppiert sich im nahen Umkreis das eigentliche politische und wirtschaftliche Zentrum der polnischen Hauptstadt mit Parlament und Börse. Man entdeckt dort jene erste Generation an jungen Menschen, die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs eine gute Ausbildung genoss und lukrative Jobs erhielt, einen Smart Set aus Lobbyisten, Anwälten, Börsianern und Managern. Das „Ale Gloria“ hat am Plac Trezech Krzyzy neben dem Wirtschafsministerium schräg gegenüber seinen genialen Ort gefunden.

Nachdem Frau Gessler schon in den frühen neunziger Jahren in der einstigen Niederlassung der Fugger am Marktplatz der Warschauer Altstadt das Restaurant „Fukier“ eröffnet hatte, entstand das „Ale Gloria“ erst im Jahr 2006. Stellt das „Fukier“ ein altertümlich eingerichtetes Restaurant dar, wo sich solvente Touristen einfinden, so präsentiert sich das „Ale Gloria“ als eine moderne Brasserie. Das Lokal befindet sich in einem weitläufigen Kellergeschoss mit großzügigen Räumen, die zum Teil noch rote Ziegelsteingewölbe aus dem Jahr 1649 besitzen. Darüber steht ein Haus mit klassizistischer Fassade, das erst vor ein paar Jahren neu erstellt wurde. Im Erdgeschoss entdeckt man zwei weitere, kleinere Lokale und Modegeschäfte internationaler Luxusmarken.

Nichts wurde im „Ale Gloria“ dem Zufall überlassen. Alles wurde von Frau Gessler bis in Kleinste aufgetüftelt. Vom Interieur bis zur Speisekarte lassen sich Anklänge polnischer Tradition erkennen: unaufdringlich, verspielt und witzig. Die Einrichtung variiert mit stoffigen, weißen Polsterbänken und roten Stickereien die polnischen Nationalfarben. Oder auf der Speisekarte bilden rote Erdbeeren und weiße Schlagsahne ein Leitmotiv. Die Chefin meint, sie fühle sich ein wenig wie eine „kleine Hexe, als Zauberin und Magierin“, die zum guten Leben verführen möchte. Sonntags geben Eltern hier ihre Kinder einer Kindergärtnerin in die Hände, um den arbeitsfreien Tag entspannt bei gutem Essen und Trinken zu verbringen.

Nicht nur in der Architektur, auch in der Kulinaria spielen Gedächtnis und Erneuerung zusammen. Die Küche ist mit ihren Zitaten aus der polnischen Tradition regelrecht stilbildend für die moderne Gastronomie in Warschau. Die Gerichte sind durchaus originell und nicht über die Maßen teuer. Es gibt beispielsweise eingelegte, zarte Heringfilets mit einer aparten Soße aus Heringsmilch und Mayonnaise – oder ein Heringstatar mit Nüssen, Rosinen und Birnen in Honig auf Pumpernickel. Die Pierogi, die milden, polnischen Teigtaschen, werden auf einem Teller spielerisch in fünf Varianten serviert. Natürlich fehlen auch nicht die landestypischen Gerichte von der Ente und vom Reh. Die polnischen Speisen verlieren ihre alte Schwere, geben sich leichter und delikater. Es macht Spaß, dort einzukehren.

ERWIN SEITZ