Marco Müller im Rutz

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März 2020

Gespräch mit Marco Müller

Magie:

Nicht Produktbreite, sondern Produkttiefe

Der neue 3-Sterne-Koch im Berliner „Rutz“ setzt Maßstäbe bei der Pflege heimischer Produktkultur sowie nachhaltiger Gastronomie, zugleich feilt er an den Garmethoden und Aromaverbindungen und sorgt für eine bezirzende Balance und Feinheit.

 

Der Suchende: Marco Müller
© Ricarda Spiegel

Herr Müller, Sie sind als „Geschäftsführender Küchendirektor“ im Berliner „Rutz“ sowohl für das Restaurant im Obergeschoss, das seit März 2020 mit drei Michelin-Sternen ausgezeichnet ist, als auch für das Zweitrestaurant im Erdgeschoss, die Weinbar, verantwortlich. Da wie dort setzen sie starke heimisch-regionale Akzente. Die Speisekarte in der Weinbar überschreiben Sie sogar mit dem Slogan „Die Rettung der deutschen Esskultur“. Woher kommt diese Leidenschaft für die heimischen Wurzeln?

Vielleicht hängt es damit zusammen, dass ich teilweise auf dem Land aufgewachsen bin. Als ich zehn Jahre alt war, zogen meine Eltern von Potsdam nach Geltow, in ein kleines Dorf in der Nähe von Werder an der Havel. Die Großeltern hatten dort ein Haus: vorne Wasser, hinter der Garten, ringsum viel Felder, Wiesen und Wälder. Opa baute im Garten viel Gemüse an, darunter auch alte Sorten, und jene Dinge, die wir selbst nicht hatten, bekamen wir von Nachbarn und Bekannten.

Meine Mutter war eine leidenschaftliche Köchin und machte die besten Gerichte aus den Sachen. Auch ich selbst kochte gern, ohne damals schon zu wissen, dass ich später einmal Koch werden würde. Ich suchte selbst Pilze im Wald und hatte einen Angelschein. Ich wusste schon als Junge, wie gut Flussbarsch schmecken kann.

Wie faden Sie dann als Koch den Weg zu einer Küche mit starkem heimisch-regionalen Einschlag?

Eigentlich wollte ich Bildhauer werden. Doch das ließen die Verhältnisse in der damaligen DDR nicht zu. Ich sollte im Arbeiter- und Bauernstaat ein Werktätiger werden. Also lernte ich Koch in Potsdam, solides Handwerk, und nach dem Ende der Lehre ging die Mauer auf. Daraufhin zog es mich nach Berlin, zunächst ins Schlosshotel im Grunewald, das seinerzeit noch „Gehrhus“ hieß, mit klassischer französischer Küche, Gänsestopfleber, Périgord-Trüffel, bretonischem Hummer, russischem Kaviar. Zunächst beeindruckte mich diese Erweiterung der Produktpalette. Vielerorts wurde in den 1990er die heimische Hochküche noch von der französischen Grand Cuisine beherrscht.

Als ich dann etwas später ins Berliner „Grand Slam“ ging und unter Küchenchef Johannes King kochte – damals mit einem Michelin-Stern ausgezeichnet – tat sich eine andere Perspektive auf. King war auf einem Bauernhof im Schwarzwald aufgewachsen und wusste, was gute heimische Produkte sind, wenngleich auch er die hohe Schule der französischen Küche durchlief, unter anderem beim legendären Henry Levy im „Maître“ in Berlin. Doch Mitte der Neunziger begann King, für seine Hochküche auch Waren von brandenburgischen Bauern oder Wildkräutersammlern zu beziehen. Ich sah, es geht auch anders.

Wann reifte für Sie der Entschluss, selbst einmal als Küchenchef auf regionale Produktkultur zu achten?

1999 war ich Küchenchef im „Harlekin“ im „Hotel Esplanade“ in Berlin und erhielt dort selbst einen Michelin-Stern, doch immer noch nah an der französischen Küche, nicht zuletzt, weil es das Hotel so wünschte. Lars Rutz war der Restaurantchef. Er sagte: Lass uns doch ein Konzept für ein Restaurant entwickeln, wo wir das machen können, was wir wollen, wo wir jung und zeitgemäß sein können, weniger formell, aber mit erstklassigem Essen und Trinken, näher an der heimischen Produktkultur und näher am deutschen Wein, nachhaltig, authentisch.

Er drängte darauf, das Konzept rasch umzusetzen und fand die Berliner Weinhändler Anja und Carsten Schmidt, die mitmachten und die Geschäftsführung übernahmen. 2001 eröffnete das „Rutz“ mit Weinbar und Restaurant in der Chausseestraße. Ich selbst konnte mich nicht so schnell lösen vom „Harlekin“, deshalb war anfangs Ralf Zacherl Küchenchef im „Rutz“, bis ich ihn dann 2004 als Küchenchef im „Rutz“ ablöste.

Ihr Stil hat sich seither stark verändert.

Am Anfang standen Experiment und Selbstfindung. Wir probierten viel aus und trauten uns viel zu, seinerzeit auch beeinflusst von der Molekularküche, servierten Fonds in Reagenzgläsern oder Gemüse in Einmachgläsern, liebten das Vielerlei, sowohl für das einzelne Gericht als auch für den Service im ganzen Haus. Aus ein und derselben Küche kam das Essen für die Weinbar und das Restaurant, im Restaurant gab es zwei Menüs sowie Gerichte à la carte, wir waren zunächst nur vier Köche und nahmen unmenschlich lange Arbeitszeiten in Kauf. So konnte es nicht weitergehen.

Es begann eine neue Phase, in der wir der Arbeit mehr Struktur gaben und zugleich mehr Köche einstellten. Nach dem Umbau von 2011 sollte es im Restaurant kein À-la-carte-Geschäft mehr geben, nur noch ein einziges Menü, zunächst mit 12 Gängen, bis wir es noch stärker verkleinerten. Heute kann sich der Gast zwischen 6 und 8 Gängen entscheiden, dazu gibt es ein Amuse-Gueule. Diese Veränderungen haben wir mit den Gästen entwickelt. Die wollen nicht mehr so viel Getue, sondern einen angenehmen Abend erleben – im Einzelnen aber das Besondere, Außergewöhnliche goutieren.

Wir konzentrierten uns immer mehr auf das Wesentliche: nicht Produktbreite, sondern Produkttiefe. Der einzelne Gang besteht in der Regel aus drei oder vier Hauptzutaten auf einem ruhige anmutenden, runden Keramikteller. Der Gast kann überblicken, was er bekommt, und sich darauf einlassen, ohne nervös zu werden. Der Restaurantchef – heute Falco Mühlichen – und seine Mitarbeiter erklären den Gästen den Aufbau der Gerichte oder die Herkunft der Zutaten, bereichern die Speise mit einer kleinen Geschichte, mal mehr, mal weniger, wie es der Gast wünscht. Der Wein oder die alkoholfreie Getränkebegleitung, wofür die Sommelière Nancy Großmann verantwortlich ist, wird so genau wie möglich auf die einzelne Speise abgestimmt.

Wie kommen Sie an gute heimische Produkte heran?

Dadurch, dass wir im Restaurant nur noch ein Menü mit 6 oder 8 Gängen anbieten, brauchen wir weniger Produkte als früher und können uns um die einzelnen Sachen mehr kümmern. Wir entdecken selbst Bauern, Fischer oder Fischzüchter im Umland und sind zugleich darauf aus, die Produkte in Absprach mit den Erzeugern zu verbessern. Ob Gemüse, Obst, Fisch oder Fleisch, wir reden mit den Herstellern darüber, was die richtige Sorte, die richtige Rasse, die richtige Anbaumethode oder Tierhaltung und Fütterung sein könnte, bis hin zur Art des Schlachtens oder der Reifung des Fleisches. Es hat fünf Jahre gedauert, bis das Kalbfleisch, das wir jetzt von einem brandenburgischen Bauern beziehen, die von uns gewünschte Qualität erreicht hat.

Sie feilen nicht nur mit den Bauern an den Produkten, sondern in ihrer Küche auch an den Garmethoden und Aromaverbindungen. Das Kalbfleisch kommt im saftigen Glanz auf den Teller, butterzart, aber doch mit einem gewissen Biss, geschmacklich mild, mit leicht süßem Karamellaroma, kontrastiert mit dezenten Hefe- und Fruchtnoten. Hinreißend komplex. Wie geht das?

Wir haben nach etwas gesucht, was die Eigenart von Kalbsaroma erweitert, aber nicht erdrückt, bis die Idee aufkam, es mit dem Koji-Pilz zu probieren, der als Fermentationsmittel eine subtile, hefig-morbide Note beisteuern kann. Wir haben den Kalbstafelspitz ein paar Minuten im Koji-Miso-Brei mariniert, dann den Brei abgetupft, das Fleisch ein paar Stunden ruhen lassen und schließlich sous-vide, im Vacuum-Beutel bei einer Wassertemperatur bei 57° gegart, am Schluss das Fleisch in der Pfanne mit Butter gebraten, damit die Zartheit etwas an Spannung gewinnt und Karamellnoten entstehen, also die Folge: mildes Kalbsaroma, Karamell, Hefe, noch ergänzt von einem morbiden fruchtigen Touch, von getrockneter dunkler Birne, die wir darüber reiben..

Für den Gast ein magischer Moment.

 

Das Gespräch führte Erwin Seitz

Restaurant Rutz in Berlin-Mitte, Chausseestraße 8, www.rutz-restaurant.de

Siehe auch:

Besuch im Rutz nach dem Umbau im Mai 2022. Mehr